Medinetz hilft Menschen ohne anerkannten Aufenthaltsstatus

Rostocker Medizinstudenten knüpfen ein Netz zwischen Ärzten und Dolmetschern für die medizinische Flüchtlingshilfe

30. November 2012, von
Medinetz Rostock
Medinetz Rostock

Es geht immer noch schlimmer. Schwer traumatisiert von Ereignissen in ihrem Heimatland flüchtet eine Frau aus dem Libanon nach Europa, zunächst nach Schweden. Doch auch hier findet sie keine Ruhe und macht sich mit ihrem Bruder auf den Weg nach Deutschland. Im Zug zwischen dem Fährhafen und der Stadt werden die beiden von der Polizei aufgegriffen. Der Aufenthaltsstatus des Bruders ist gültig, ihrer nicht. Die beiden werden getrennt. Die Frau kommt ins Flüchtlingsheim ohne ihren Bruder, der für sie die letzte Brücke ins Leben ist. Denn entkräftet und verstummt durch ihre traumatischen Erlebnisse hat sie große Schwierigkeiten im Alltag zurecht zukommen.

„Diese Szene im Zug ist emblematisch für das, was der Frau passiert ist und was generell in Sachen Asylpolitik und Abschiebung passiert“, urteilt Christian, Medizinstudent der Universität Rostock. Der 27-Jährige kann noch viele solcher Geschichten erzählen. Er engagiert sich im Rostocker Medinetz, an das sich Hilfesuchende mit ausländischer Herkunft wenden. Etwa 15 Studenten, fast ausschließlich zukünftige Mediziner, haben sich hier zusammengefunden, um Flüchtlinge ohne anerkannten Aufenthaltsstatus im Krankheitsfall zu unterstützen.

Aus Angst vor Abschiebung scheuen sie den Gang zum Arzt und verzichten auf ihr Recht auf medizinische Behandlung. Allzu oft verschlimmert sich ihre Situation dadurch.

Eine Notfallversorgung ist im Krankenhaus immer gewährleistet, erklärt Birger Birkholz, Sprecher der Südstadtklinik. Doch sei eine Wahrung der Anonymität schwierig und liege im Ermessen der Ärzte. Die befinden sich in einer Zwickmühle. Ärzte machen sich zwar nicht strafbar, wenn sie „illegalen“ Menschen helfen, es ist ihre ärztliche Pflicht, zu der auch die Schweigepflicht gehört.

Das Problem liegt vielmehr in der Kostenübernahme. Von einem Pflaster ist da nicht die Rede, doch im Falle einer aufwendigen Behandlung und Diagnose, beginnt im Krankenhaus eine Recherche nach einem Kostenträger, beschreibt Birger Birkholz die dann anlaufenden Prozesse.

Dabei kommen dann öffentliche Behörden wie das Sozialamt ins Spiel. Das rechnet zwar die Leistung auch für Menschen ohne Aufenthaltsgenehmigung gesetzmäßig ab. Doch spätestens bei geplanten Behandlungen, also wenn es sich nicht um Notfälle handelt, ist auch das Sozialamt verpflichtet, die Daten an die Ausländerbehörde zu übermitteln. Weil dann nämlich der Patient selbst einen Krankenschein beantragen muss und die ärztliche Schweigepflicht nicht mehr greift. Eine Abschiebung droht.

Wie die Rostocker Behörden mit solchen Fällen konkret umgehen, dazu äußerten sie sich auf unsere Nachfrage nicht. Ganz selten gibt es solche Fälle im Alltag, hören wir aus der Ärztekammer.

„Es gibt eine Lücke im System. Leider kümmert sich der Staat nicht um diese Menschen, sodass andere Strukturen greifen müssen, um ihnen zu helfen“, begründet Victoria ihr freiwilliges Engagement bei Medinetz. In der letzten Woche war sie für das Medinetzhandy verantwortlich, das immer einer dabei hat. „Die meisten rufen zuerst unser Telefon an.“ Kurz vor einem Seminar klingelt es. Eine Mitarbeiterin der Schwangerschaftsberatung fragt, ob sie einer jungen Mutter asiatischer Herkunft mit ungeklärter Krankenversicherungslage bei der Nachsorge helfen können. Sie machen einen Termin für die nächste Sprechstunde aus. Immer dienstags von 17 bis 18 Uhr nehmen sich zwei Studenten Zeit für die Beratung Hilfesuchender.

„Wir untersuchen nicht. Wir sind auch keine Experten“, betont Medizinstudent Daniel, „wir versuchen aber herauszufinden, welche Probleme die Menschen haben, und vermitteln dann Kontakte zu Ärzten.“

Medinetz-Mitglied Anne Kunert erläutert: „Wir haben alle Rostocker Ärzte einmal angeschrieben. Einige haben sich zurückgemeldet. Mit denen haben wir vereinbart, dass wir mit unseren Patienten einen Termin ausmachen können.“ Oft wird dann die Krankenakte unter einem Pseudonym geführt und die Kosten zu speziellen Konditionen abgerechnet.

„Wenn keiner die Kosten übernimmt, versuchen wir zu helfen“, sagt Daniel. Das Geld für Behandlung und Medikamente treiben die jungen Leute beispielsweise bei Benefiz-Veranstaltungen wie etwa bei der Medinetz Party heute Abend im Peter-Weiss-Haus auf.

Wenn die Medinetz-Helfer ihre Patienten zu den Ärzten begleiten, ist oft auch ein Dolmetscher dabei, auf den sie dank ihres Netzwerkes zugreifen können.

Denn neben der Finanzierung stellt die Verständigung oft eine weitere Herausforderung bei der medizinischen Versorgung von Flüchtlingen dar. Fremdsprachen wie Vietnamesisch, Arabisch oder den Sprachen aus dem ehemaligen Jugoslawien machen die Kommunikation vor allem im medizinischen Kontext ziemlich schwer, berichtet Student Daniel.

Hinzu kommen psychische Störungen, die durch Ängste, Konflikte und Kriegserfahrungen ausgelöst werden. „In Rostock gibt es bei den Ärzten und auch bei uns damit nur wenig Erfahrung“, so die Einschätzung der Studentin Victoria.

Die Frau aus dem Libanon sprach aus diesem Grund nicht mal mehr arabisch. Sie blieb stumm. Nachdem sie auf der Straße zusammengebrochen war, übernahm das Medinetz ihren Fall. Ihre rechtliche Situation war ungewiss. Klar war hingegen, dass sie unter akuten Traumata und inneren Beschwerden litt. Die Kommunikation verlief schriftlich. In einem 30-seitigen Abschiedsbrief offenbarte sich den Studenten, wie sehr ihr Leben bedroht war. Völlig erschöpft wurde sie schließlich in eine Klinik eingewiesen, wo sie innerhalb von einigen Wochen wieder einigermaßen zu Kräften kam. „Doch die Polizei machte Druck, weil sie nicht geduldet war“, erzählt Daniel. Gemeinsam berieten sich die Studenten im Medinetz über eine Perspektive für diese Frau und versuchten sogar Kontakt nach Schweden aufzubauen, um eine weitere Betreuung dort sicherzustellen. Resigniert willigte sie schließlich ein, nach Schweden zurückgeführt zu werden. Dann verliert sich ihre Spur für das Rostocker Medinetz.

Als ungerecht und menschenverachtend, bezeichnet Medizinstudent Christian in diesem Fall den Begriff Abschiebung und kritisiert, dass die Frau systematisch zur Erschöpfung geführt wurde.

Politische Arbeit und Öffentlichkeitsarbeit um Menschen für das Thema zu sensibilisieren werde daher für Medinetz Rostock auch immer wichtiger.

Seit der ersten Sprechstunde im Herbst 2009 war der Waldemarhof der Treffpunkt des Medinetz Rostock, wo Sprechstunden angeboten wurden und sich die Gruppe gemeinsam beriet. Ab nächster Woche sind die Studenten jedoch in der Ökovilla (Hermannstraße 36) zu finden.

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